„Nacht. Ich gehe einen schmalen Dschungelpfad entlang. In der Nähe schimmert ein breiter Fluss im Mondlicht, der Agua Rico. Um uns spielen die Schatten, über uns gigantische Bäume. Knackende Zweige. Ich klammere mich an Miguel. Der Pfad ist nicht mehr zu sehen, nur Mondlicht als silberne Flecken auf riesigen Blättern. Wie lange gehen wir schon? Die Zeit existiert nicht mehr.“
So beginnt Iris Disse die Beschreibung einer nächtlichen Trance-Reise im Amazonas-Dschungel, Ihrer Begegnung mit dem Schamanen Don Yachak de Duran, mit den magischen Visionen der Amazonas-Indianer. Iris Disse nimmt teil an einem nächtlichen Ritual, trinkt unter Anleitung von Don Yachak das Ayahuasca, ein aus einheimischen Pflanzen des Amazonasbeckens gebrauter bitterer Sud, der den Ureinwohnern seit Jahrtausenden als Führer auf spirituellen Reisen dient und dadurch ihre Weltsicht und ihr Verhältnis zur Natur wesentlich mitbestimmt.
„Für Momente bin ich in der Realität präsent, höre den Gesang des Schamanen und die Grillen, dann absorbieren mich wieder die mächtigen traumartigen Bilder meiner inneren Welt. Zwei kosmische Visionen treffen aufeinander: Meine rationalistische Welt und die magische Welt der Amazonasindianer, die immer noch in einer Zeit leben, in der Alles mit jedem zusammenhängt.“
Iris Disse hat ihre Erfahrungen in eine suiten-artige Komposition umgesetzt, in eine Mischung aus Song-Zyklus, Hörspiel und elektroakustischen Impressionen. 55 Minuten lang entführt sie den Hörer in eine fremde, magische Welt, kreiert ein musikalisches Äquivalent ihrer nächtlichen Erlebnisse, das den Traditionen der Ureinwohner Respekt erweist, gleichzeitig aber zeitgenössische Kompositionsmethoden und Studiotechniken nutzt. Basis der Komposition sind ‚field recordings’: die Geräusche des Dschungels (Grillen, Vogelschreie, Regen) und die traditionellen Gesänge des Schamanen. Alle Geräusche sind stets im Fluss, ändern sich, werden ineinander gemischt und/oder elektronisch behandelt, um den akustischen Halluzinationen unter Ayahuasca-Einfluss zu entsprechen. Überlagert werden sie von einem durchweg akustischen Instrumentarium (Geige, Flöte, Saxophon, Bassklarinette, Maultrommel, Percussion), das häufig solistisch eingesetzt wird – nur gelegentlich sind Duos oder Trios zu hören. Dazu kommen die wie ein Spinnennetz sich durch die Komposition ziehenden Frauenstimmen der Improvisationsgruppe ILALOA und die Stimme von Iris Disse selbst, die mit kurzen impressionistischen Texten oder mit Liedern (wunderschön: der ‚Ayahuasca Song’!) zu hören ist. Trotz der zum Teil massiven elektronischen Behandlung der Geräuschaufnahmen ist bei dieser CD ein Gefühl der Weite und Transparenz vorherrschend – gepaart mit einem dynamischen Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung und einer tiefen Kenntnis der spirituellen und musikalischen Kultur Südamerikas.
Alle 13 Tracks der CD gehen ineinander über – ayahuasca noche de ritual ist ein anspruchsvolles, aber lohnendes Hörerlebnis, mit dem man sich auch rein musikalisch auf eine Trance-Reise begeben kann.
AYAHUASCA (auch ‚Yagé’, ‚Caapi’ oder ‚Daime’; dt.: ‚Ranke der Seele’)
ist ein heiliger Pflanzensud, der im Amzonasbecken und im angrenzenden Orinoco-Gebiet seit mehr als 2000 Jahren in ritueller Weise für spirituelle Reisen, Initiationen und Heilzwecke verwendet wird. In neuerer Zeit wird er auch bei Zeremonien von etwa 20 vorwiegend in Brasilien beheimateten synkretistischen Kulten verabreicht – am bekanntesten sind Santo Daime und União do Vegetal (UDV). Die Indios glauben, dass Ayahuasca die Seele vom Körper löst, so dass sie frei umherwandern kann und dann wieder in den Körper zurückkehrt.
Die Wirksamkeit des Ayahuasca-Suds beruht auf der Mischung von Pflanzenarten, die zwei verschiedene Alkaloide enthalten. Die halluzinogene Wirkung beruht auf DMT (N, N-dimethyl-Triptamin). Normalerweise ist es oral eingenommen auch in hohen Dosen unwirksam, da es von dem körpereigenen Enzym Monoaminooxidase (MAO) abgebaut wird, bevor es über die Blut-Hirn-Schranke in das zentrale Nervensystem eindringen kann. Dies wird durch die gleichzeitige Gabe von Harmin und Harmalin verhindert, die als MAO-Inhibitoren fungieren, d.h. das Enzym blockieren und so DMT wirksam werden lassen. Harmin und Harmalin sind in zwei nahe verwandte Lianenarten der Gattung Banisteriopsis (Malpighiaceae) enthalten, die im Amazonasgebiet als Grundlage für Ayahuasca dienen. Harmin findet sich aber auch in der Steppenraute (Peganum harmala). DMT ist in einer ganzen Reihe von Sträuchern enthalten, u.a. in den Blättern der Chacruna-Pflanze (Psychotria viridis). Das Rauscherlebnis kann je nach Art der DMT-haltigen Pflanze stark variieren. Im Amazonasgebiet hat jeder Schamane eigene geheime Ayahuasca-Rezepte. Oft wird der Trank unterschiedlich zubereitet, je nach erwünschter Wirkung. Zudem wird er gelegentlich in Verbindung mit anderen Medizinen eingenommen.
„Dem Schamanen dient der Pflanzenextrakt dazu, Krankheiten zu erkennen, drohende Gefahren abzuwenden, die List des Feindes zu erraten oder zukünftige Ereignisse zu prophezeien. Einem Stadium, das von Schwindelgefühl, Nervosität und Übelkeit gekennzeichnet ist, folgt die Erscheinung leuchtender Farben, deren symbolischer Gehalt gedeutet wird. Gelb wird mit der Saat und der Befruchtung durch die Sonne in Verbindung gebracht, Rot symbolisiert die weibliche Fruchtbarkeit und Blau bedeutet Denken inmitten von Tabakrauch. Leiter einer Ayahuasca-Zeremonie ist immer ein spezialisierter Schamane, der den Teilnehmern der Zeremonie nach dem Rausch die Wünsche der Geister mitteilen kann.“ (nach: Schultes & Hofmann, Pflanzen der Götter, AT Verlag, 1998)
Die Einnahme von Ayahuasca ist mit unangenehmen körperlichen Nebenwirkungen verbunden, u.a. Schwindelgefühle und Herzklopfen. Häufig sind starkes Erbrechen kurz nach der Einnahme und Durchfall meist noch in derselben Nacht. Der Rausch selbst wird von starken Farb- und Geräuschhalluzinationen begleitet. Der Berauschte erlebt sich für gewöhnlich in einer fremden Realität und verliert das Zeitgefühl. Die Halluzinationen klingen nach 4 bis 6 Stunden allmählich ab. Die Einnahme zusammen mit bestimmten Medikamenten (Antidepressiva, Sedativa, Tranquilizern, die MAO enthalten) kann lebensgefährlich sein. Allgemein wird vorher die Einhaltung einer Diät empfohlen (unter Vermeidung von Eiern, Milchprodukte, Kaffee, Bananen, Tomaten, Zucker und Fleisch) und eine Einnahme nur unter erfahrener Anleitung.
Literaturhinweise:
Arno Adelaars/Christian Rätsch/Alan Shoemaker: “Ayahuasca” (Nachtschatten-Verlag)
Jonathan Ott: „Ayahuasca Analoge. Pangäische Etheogene“ (Grüne Kraft)
Jim DeKorne: „Psychedelischer Neo-Schamanismus“ (Grüne Kraft)
William S. Burroughs/Allen Ginsberg: „Auf der Suche nach Yage“ (Limes)
Richard Evans Schultes/Albert Hofmann: „Pflanzen der Götter“ (AT Verlag)