SCHNEEBALL
war schon „independent", als es dieses Wort - zumindest im deutschen Sprachgebrauch - noch gar nicht gab. Es war zwar nicht das erste unabhängige Label in der damaligen BRD (diese Ehre gebührt wahrscheinlich FMP), aber es war das erste, das komplett von Musikern organisiert und finanziert wurde. Die Musiker machten bzw. kontrollierten alles selbst: Produktion, Covergestaltung, Herstellung und, zusammen mit einem Netzwerk von Freunden, den Vertrieb.
„Wir haben Deutschland aufgeteilt. Wir hatten z.B. das ganze schwäbische Gebiet und Oberfranken, die Sparis hatten Mühldorf, die Passauer Ecke usw., München hat Julius Schittenhelm übernommen, und die Scherben hatten fast ganz Norddeutschland. Missus Beastly hatten Frankfurt und das Rhein-Main-Gebiet. Das Ruhrgebiet haben wir wie ein rohes Ei behandelt. Verschiedene Gruppen haben versucht, sich da zu etablieren. Und Othmar Schreckeneder hat die Auslandskontakte gepflegt... Ich bin damals mit Butze Fischer losgefahren mit dem Bandbus und Platten drin und in die Läden rein und wir hatten wirklich absurde Erlebnisse. In Forchheim gehen wir in einen Laden und sagen: ‘Hallo!’ - niemand da! Als wir raus gehen, sehen wir, wie jemand von hinten kommt - eine Frau. Die hatte Angst vor uns - mit unseren langen Haaren, irgendwelche Kartons unterm Arm... Oder in Nürnberg in einem Laden, da haben die Verkäuferinnen nur gelacht. Kein Wort geredet, nur gelacht. Aber sie haben uns was abgekauft - ich hab’ einfach einen Lieferschein ausgefüllt."
(Christian Burchard, EMBRYO)
Die Motive, Produktion und Vertrieb ihrer Platten selbst in die Hand zu nehmen, waren bei den Schneeball-Bands durchaus unterschiedlich. Ton Steine Scherben hatten ihre Platten von Anfang an auf dem eigenen ‘David Volksmund’-Label herausgebracht und wollten nun einen funktionierenden Vertrieb aufbauen, Embryo hatte nach 7 LPs bei 4 verschiedenen Plattenfirmen einfach die Nase voll, Missus Beastly waren von ihrem Produzenten kaltgestellt worden und suchten eine alternative Veröffentlichungsmöglichkeit, für Sparifankal „war es von vornherein klar, daß wir mit der Industrie nix zu tun haben wollten". Starthilfe finanzieller wie organisatorischer Art steuerte der Münchner Trikont Verlag bei. Die Musikpresse, die hinter den von Jahr zu Jahr besser besuchten ‘Umsonst & Draußen’-Festivals eine neue Jugendbewegung witterte (über 10000 Fans in Porta Westfalica 1978), berichtete wohlwollend bis euphorisch. Doch die ersten Schwierigkeiten ließen nicht lange auf sich warten. 1976 hatte man sich nach dem Monat benannt, in dem die ersten Veröffentlichungen erschienen: „Musikkooperative APRIL". Unglücklicherweise war der Name schon vergeben.
„Wir hatten nicht bedacht, daß in der großen, weiten, fernen Welt der Mega-Konzern CBS einen kleinen Musikverlag - nicht mal ein Schallplattenlabel - hatte, der ‘april music’ hieß. Und da haben wir bald gemerkt, wie das ist, wenn man mit so einem Koloß zusammenrauscht. CBS hat den Markt offensichtlich sehr genau beobachtet und hat uns gleich mit einer irrsinnigen Klage überzogen. Der Streitwert war bei 100.000 Mark angesetzt und wir kleine, unabhängige Wichtel hatten überhaupt keine Chance, uns über solche Summen mit einem Weltkonzern zu streiten. Wir haben uns gesagt, der Klügere gibt nach, und in tage- und nächtelangen Diskussionen, nach monatelangen Rundschreiben, und vor allem nach Abchecken diverser Handelsregister sind wir dann auf die glorreiche Idee gekommen, das Ganze SCHNEEBALL Records zu nennen. Der Name war so wenig geschäftsmäßig, daß es keine konkurrierenden Mitbewerber gab - hat sich aber bis heute gehalten."
(Carl-Ludwig Reichert, SPARIFANKAL)
Die Idee der „Musik im Vertrieb der Musiker" zog immer weitere Kreise. Befreundete Bands wie Checkpoint Charlie, Munju, Moira und die Real Ax Band meldeten Interesse an. Aber die Gründerbands wollten ihre familiäre, dezentrale Organisationsstruktur behalten.
„Die persönliche Beziehung ist wichtiger als ein großer Apparat, der einem vielleicht selbst gehört, aber irgendwann sein Eigenleben entwickelt."
(Schneeball-Info Nr.5)
Die Losung hieß: „Schafft zwei, drei, viele Schneeballs." Aber am Ende wurde es doch wieder nur einer und die 2. Generaton der Schneeball-Bands gehörte plötzlich auch zur Familie.
„Zu Beginn gab es große ideologische Diskussionen. Was machen wir hier eigentlich? Tauschen wir untereinander Platten oder zahlen wir uns gegenseitig aus. Wie gehen wir damit um, daß die Platten der einen Gruppe besser laufen als die der anderen. Damit die einen nicht sagen: ‘wir arbeiten für euch und ihr verdient an uns’. Da hieß es dann: ‘Nein, wir tauschen nicht Platten aus, sondern jeder bekommt das Geld ausgezahlt für die Platten, die er verkauft hat. Ohne Provision, ohne alles. Wir tauschen hier nicht Geld miteinander aus, sondern Zeit.’ Und man erwartete von jeder Band, die mitmachte, daß sie die Platten der anderen Bands mit dem gleichen Engagement in die Läden stellte wie die eigenen."
(Nikel Pallat, TON STEINE SCHERBEN)
Der hehre Anspruch sollte jedoch der rauhen Wirklichkeit nicht standhalten. Das Labelmotto „Musik im Vertrieb der Musiker" galt eigentlich nur in der Anfangsphase von SCHNEEBALL, dann setzten sich doch wieder die Strukturen durch, die man eigentlich überwinden wollte. Die Herausbildung eines gewissen Spezialistentums war unvermeidbar, denn Musiker sind schlechte Buchhalter, sortieren Aktenordner nur unter Androhung körperlicher Gewalt und schreiben Mahnbriefe erst, wenn ihnen das Zigarettengeld ausgeht. Obwohl es dafür natürlich jede Menge stichhaltiger Erklärungen gibt.
„Na klar, wir waren manchmal z.B. 9 Monate in Indien..."
(Christian Burchard, EMBRYO)
„Einen Schnellkurs in Betriebswirtschaft machen zu müssen, sein eigener Vertreter zu sein und dazu noch kreativer Musiker zu bleiben, das hat sich irgendwann als ein fast zu großer Spagat erwiesen. Irgendwann mußte ein richtiger Vertrieb daraus werden."
(Carl-Ludwig Reichert, SPARIFANKAL)
Und so fragte man gute Freunde, ob sie nicht gegen einige Prozent vom Verkaufserlös die Platten in die Läden bringen wollten. Die Freunde fanden bald heraus, daß mit einem breiteren Angebot bedeutend mehr Platten verkauft werden konnten. Also nahmen sie noch einige der eben entstehenden Punk- und New Wave-Label mit in den Vertrieb. Aus einem losen Vertreterverbund entstand schließlich 1983 der erste deutsche Independent-Vertrieb: ‘Energie für Alle’, abgekürzt EFA. Inzwischen hat EFA noch einen Ableger bekommen. 3 EFA-Mitarbeiter aus der Anfangszeit, denen der Betrieb zu groß und das Angebot zu beliebig geworden ist, haben mit INDIGO ihren eigenen Vertrieb gegründet - von Anfang an mit SCHNEEBALL im Programm.
Über die Jahre hat sich SCHNEEBALL seine anarchische, am ehesten einer Großfamilie vergleichbaren Struktur erhalten. Familienoberhäupter gab es viele, aber immer wieder laufen die Fäden beim ehemaligen Embryo-Manager Othmar Schreckeneder zusammen, der mit Veröffentlichungen von Die Wand An, Eugen de Ryck, Chris Karrer, Amon Düül 2 und zwei Hörspielen des Bayerischen Rundfunks das Labelspektrum um einige Sparten erweitert hat.